Eine jüngst veröffentlichte „Datengestützte Analyse zur Lage der Stadtteilschulen in Hamburg“ des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) zeigt, wie schwer es diese Schulen tatsächlich haben. Hierzu hat das Parents Magazin mit Frau Sabine Boeddinghaus das nachstehende Interview geführt.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Die Analyse zur Lage der Stadtteilschulen macht schwarz auf weiß deutlich, dass es dort sehr viele Schüler mit Förderbedarf gibt. Die Zahlen lesen sich zum Teil dramatisch. Wie
bewerten Sie die Analyse?
Sabine Boeddinghaus:
Die Analyse des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) der Hamburger Schulbehörde zeigt auf, dass das politisch gewollte Konstrukt der vermeintlich "gleichwertigen Säulen" von Stadtteilschule und Gymnasium nicht annähernd im Sinne von Bildungsgerechtigkeit und verlässlicher Förderung ALLER SchülerInnen funktioniert. Wenn sämtliche Aufgaben wie die Realisierung der Inklusion, die Förderung und Unterstützung vieler junger Menschen, die zu Hause weitgehend auf sich allein gestellt sind und die Beschulung der jungen Geflüchteten nahezu ausschließlich von den Stadtteilschulen gewährleistet werden müssen, dann verwundern und erstaunen die Ergebnisse der Analyse niemanden.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Fünf von 22 Schülern in den fünften Klassen der Stadtteilschulen kommen aus schwieriger Wohnlage, sechs erhalten eine Sprachförderung, drei haben ein sonderpädagogisches
Fördergutachten. Wie kann geholfen werden? Welche schulpolitischen Veränderungen sind erforderlich?
Sabine Boeddinghaus:
Selbstverständlich brauchen die Stadtteilschulen bestmögliche Rahmenbedingungen und Unterstützung durch Politik und Behörde. Das heißt, die Ressourcenzuweisung muss deutlich erhöht werden und das LehrerInnen-Arbeitszeitmodell muss den heutigen Herausforderungen angepasst werden. Allein diese Maßnahmen helfen aber nicht, um die Stadtteilschulen wieder stark und für alle Eltern anwählbar zu machen. Unsere Forderung ist ganz schlicht, aber von allen anderen Parteien partout nicht gewollt: Auch die Gymnasien müssen sich im 21. Jahrhundert an der Inklusion und der Beschulung geflüchteter junger Menschen verstärkt beteiligen.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Das Image der Stadtteilschulen ist nicht gut. Immer mehr Eltern melden ihre Kinder an den Gymnasien an. Was macht Schulsenator Ties Rabe falsch?
Sabine Boeddinghaus:
Ties Rabe hält aus rein politisch motivierten Gründen krampfhaft am sozial ungerechten und ausgrenzenden 2-Säulen-Modell fest, bürdet den Stadtteilschulen alle pädagogischen "Lasten" auf, ignoriert die realen (unlösbaren) Probleme an den Stadtteilschulen, hält in Sonntagsreden flammende Fürreden für die Stadtteilschulen und verkündet zugleich in Interviews, dass sein Sohn an der Stadtteilschule "aufgeblüht" wäre. Dabei sagt er nicht, dass auch er seinen Sohn erst einmal am Gymnasium angemeldet hat. Mit solchen Einlassungen wirbt er nicht für die Schulform "Stadtteilschule", sondern er deklassiert die Stadtteilschule zum Reparaturbetrieb des Gymnasiums. Immerhin müssen die Stadtteilschulen über 1.000 SchülerInnen im Laufe der Sekundarstufe I aus den Gymnasien als sogenannte "RückläuferInnen" integrieren.. Es ist einfach im System angelegt, dass die Stadtteilschulen als die minderwertige Säule gelten und die erste Wahl augenscheinlich für immer mehr Eltern das Gymnasium ist.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Woran liegt es, dass die Stadtteilschulen die Hauptlast der Inklusion tragen und eine ungleiche Verteilung der Flüchtlingskinder bemängelt wird?
Sabine Boeddinghaus:
Am Festhalten von SPD-Grüne-CDU-FDP am sogenannten "Schulfrieden", der besagt, dass sich alle ihn tragenden Parteien dazu verpflichten, keine Veränderung mehr an der Schulstruktur vorzunehmen. Dazu kann ich sagen, 1. war eigentlich die Verabredung, dass dieser "Schulfrieden" nur gilt, wenn die 6-jährige Primarschule etabliert worden wäre und 2. die Aufgabe der Inklusion über dieser Vereinbarung steht. Ein bisschen Inklusion geht eben nicht. Erfreulicherweise läuft dieser "Deal", den DIE LINKE nie mitgetragen hat, weil die soziale Frage und die der fehlenden Bildungsgerechtigkeit, die in jeder Studie für Deutschland angemahnt wird, im Jahr der Bürgerschaftswahl 2020 aus...
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Die Schulleiter der Stadtteilschulen haben in ihrem Brandbrief an Schulsenator Ties Rabe die Sorge geäußert, die Stadtteilschulen können zu einer „Rest“-Schule werden. Teilen Sie
diese Sorge?
Sabine Boeddinghaus:
Innerhalb der Stadtteilschulen gibt es große Unterschiede. Die, die aus den ehemaligen starken Gesamtschulen erwachsen sind, stehen im Ansehen der Eltern weit besser dar, als die, die vormals eine Haupt- und Realschule waren. Zudem gibt es auch zunehmend krasse Unwuchten innerhalb einzelner Stadtteile. Das heißt, dass über richtige und wichtige Weichenstellungen der Bildungspolitik auch Stadtentwicklungs- und Sozialpolitik eine große Rolle spielen müssen. Die Frage wachsender Armut von Eltern und ihren Kindern hat in Stadtteilschulen in "sozial schwierigen Lagen" natürlich eine weit größere Bedeutung, als in Stadtteilschulen in "besseren Lagen", ganz zu schweigen bei Gymnasien. Aber es gibt natürlich auch Gymnasien in den sogenannten KESS 1 und 2- Gebieten, die zusätzliche Unterstützung dringend brauchen. Der Begriff "Resteschule" ist stigmatisierend und greift zu kurz, deshalb verwende ich ihn nicht. Dem sozialen Auseinanderdriften von Stadtteilen und ihrer jeweiligen Schulen muss durch ein breit geschnürtes Paket von bildungs-sozial- und stadtentwicklungspolitischen Maßnahmen begegnet werden. Diese Erkenntnis, geschweige denn die Einsicht entsprechend zu handeln, lässt der Senat vollständig vermissen.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Woran liegt Ihrer Ansicht nach das eher schlechte Image der Stadtteilschulen?
Sabine Boeddinghaus:
s.o.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Können Hamburgs Eltern ihre Kinder guten Gewissens auf die Stadtteilschule schicken?
Sabine Boeddinghaus:
JA! Ich habe meine 5 Kinder alle mit bestem Gewissen an die Gesamtschule, später Stadtteilschule geschickt und es hat ihnen sehr gut getan, zu erleben, dass es Kinder gibt aus
vielerlei Kulturen, Elternhäusern und mit mannigfachen Unterstützungsbedarfen. Auch dieses Lernen bildet!
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Liebe Frau Boeddinghaus, vielen Dank für das Interview.
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Maik Findeisen:
Guten Tag Frau Boeddinghaus, können Sie sich bitte kurz vorstellen.
Sabine Boeddinghaus:
Sehr gern Herr Findeisen.
In Partei und Parlament:
2001 Eintritt in die SPD, 2004-2008 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, Ende 2008 Austritt aus der SPD
2009 Mitarbeit in der LAG Bildung DIE LINKE
im Januar 2010 Eintritt in DIE LINKE, Sprecherin der LAG Bildung
ab März 2010 Mitglied im Bezirksvorstand DIE LINKE, Harburg
ab März 2011 Abgeordnete der Bezirksversammlung Harburg
ab März 2015 Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft
Fachsprecherin für Bildung und Schule, Familie und Jugend
Mitglied in den Ausschüssen Familie, Kinder und Jugend, Schule
Außerparlamentarisches Engagement:
Seit 1986 Arbeit in schulischen Gremien, Elternrat und Kreiselternrat
langjährige Vorsitzende des Elternrates der Schule Grumbrechtstrasse und der Gesamtschule Harburg
Gründung „Harburger Elternstammtisch“
Mitglied im Aktionsbündnis „Gesamtschule – gut für alle“
Gründungsmitglied der Volksinitiative „Eine Schule für Alle“
Vorsitzende Elternverein Hamburg e.V.
Stv. Vorsitzende im Vorstand des Vereins „Eine Schule für Alle“
Mitglied der GEW
seit 2006 Mitglied im Landesvorstand des Arbeiter Samariter Bundes (ASB)
Maik Findeisen:
Was macht Sabine Boeddinghaus wenn sie nicht in der Hamburgischen Bürgerschaft und für ihre Partei tätig ist?
Sabine Boeddinghaus:
Ich bin Jahrgang 1957 und kam in Wesel/Nordrhein–Westfalen auf die Welt. Ich bin verheiratet, habe fünf Kinder und zwei Enkelkinder. Meine Freizeit widme ich natürlich meiner Familie. Außerdem singe ich in der Harburger Kantorei, lese gern Krimis und treffe Freundinnen.
Maik Findeisen:
Was bewerten Sie in der Hamburger Schullandschaft positiv?
Sabine Boeddinghaus:
Hamburg ist Vorreiter bei der Inklusion und hat diese immens wichtige Thematik durch § 12 im Hamburgischen Schulgesetz verankert.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie die Integration von Flüchtlingskindern in die Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Sabine Boeddinghaus:
Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Hamburger Senat diese wichtige Aufgabe mittlerweile ernst nimmt. Leider ist es jedoch so, dass der Senat bei dieser Thematik nicht parteiübergreifend zusammenarbeitet. Der Senat betreibt Flickschusterei, es mangelt ihm an Kompetenz und er arbeitet auch nicht mit den zahlreichen Ehrenamtlichen zusammen.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie die Inklusion in der Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Sabine Boeddinghaus:
Der Hamburger Senat verspielt die Vorreiterrolle die er ursprünglich bei der Thematik „Inklusion“ bundesweit inne hatte. Die finanziellen und personellen Ressourcen werden runtergefahren. Den Stadtteilschulen wird mit der Inklusion und auch mit der Integration von Flüchtlingskindern die Hauptlast in der Hamburgischen Schullandschaft aufgebürdet- hierbei sind die Stadtteilschulen die eierlegende Wollmilchsau. Die Hamburger Gymnasien müssen durch den Senat in die Pflicht genommen werden.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie das Thema „Schulbegleiter“ in der Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Sabine Boeddinghaus:
Der Senat hat schlechte Rahmenbedingungen für Schulbegleiter im Zusammenhang mit der Inklusion zu verantworten. Sie sind oftmals zu schlecht bezahlt und immer nur befristet angestellt. Sie fungieren viel zu oft als Lückenbüßer und Ausputzer für schlecht gemachten inklusiven Unterricht. Sie brauchen entsprechende Ausbildung und ein eigenständiges Berufsbild.
Maik Findeisen:
Wie nehmen Sie aus Ihrer Sicht die Situation auf den Hamburger Schultoiletten wahr? Haben Sie eine Idee bzw. kennen Sie Schulen wo der Vandalismus minimiert und die Hygiene in gutem Zustand ist?
Sabine Boeddinghaus:
Der Vandalismus in Schulen ist eng damit verknüpft, wie (un-)wohl sich Schülerinnen und Schüler in ihrer Schule fühlen und wie die Stimmung, das Klima und das Miteinander dort sind.
Maik Findeisen:
Wie nehmen Sie die Drogensituation an den Hamburger Schulen wahr? Wie sollte aus Ihrer Sicht Drogenprävention erfolgen und wie sollte in Akutsituationen (Drogendeal, Drogeneinnahme) vorgegangen werden?
Sabine Boeddinghaus:
Die Konkurrenz unter den Schulen führt u. a. dazu, dass ein Austausch und Kommunikation aus Angst vor rückläufigen Schülerzugängen und verstärkten Schülerwechseln unterbleibt. Warum wird in der Gesellschaft die Droge „Alkohol“ akzeptiert, während andere Rauschmittel geächtet sind. Dies hat auch etwas mit Umsatz, Wirtschaft und Lobbyismus zu tun. Es besteht in vielen weiterführenden Schulen keine gute Kultur um Konflikte anzusprechen – dies machen die Grundschulen erheblich besser.
Maik Findeisen:
Voraussichtlich im Herbst 2017 kann der Neubau der Irena-Sendler-Schule bezogen werden. In diesem Zusammenhang soll die traditionsreiche Aula abgerissen und durch eine erheblich kleinere Multifunktionsräumlichkeit (Aula, Essensplätze) „ersetzt“ werden. Wie bewerten Sie den Abriss der traditionsreichen Aula und den Ersatz?
Sabine Boeddinghaus:
In seinem Musterflächenprogramm hat der Senat festgelegt, wie viel Schulgebäudefläche
beziehungsweise Freifläche Schüler/-innen zur Verfügung stehen sollte. In seiner Drucksache „Neuausrichtung von Bau und Bewirtschaftung der staatlichen Schulimmobilien“ (Drs. 20/5317) ist eine Schulflächenreduktion um 300.000 m² angekündigt.
In der Drs. 20/6264 antwortet der Senat: „Grundlage für alle Zubauten oder Flächenreduzierungen sind die im Schulentwicklungsplan aufgeführten Zügigkeiten der Schulen, das Musterflächenprogramm und die Ergebnisse der Gespräche zur Raumsituation an den Schulen. Der Flächenbedarf einer Schule wird in einem Prozess unter Einbeziehung der Schule und aller Gegebenheiten vor Ort ermittelt. Dabei werden auf der Basis des Musterflächenprogramms die Anerkennung entsprechender Flächen in Bestandsbauten erörtert und gegebenenfalls Maßnahmen aus den Ergebnissen abgeleitet und transparent dargestellt. Ziel der Anwendung des Musterflächenprogrammes ist es, allen Schulen angemessene und vergleichbar große Flächen zur Verfügung zu stellen.“
Vor dem Hintergrund einer stetig anwachsenden Quote der Inanspruchnahme des schulischen Ganztags und der inklusiven Teilnahme an Regelschulen – auch am Nachmittag –, angesichts rasant zunehmender Zahlen von IV- und Basisklassen und der zurückgehenden Anmeldequote an Stadtteilschulen, besteht die dringende Notwendigkeit, die Raumbedarfe an jedem einzelnen Schulstandort neu zu bewerten. Voraussetzung dafür ist es, einen Überblick über die aktuelle tatsächliche Raumsituation hinsichtlich der Schul- und Aufenthaltsflächen zu bekommen.
Maik Findeisen:
Welche Note geben Sie Schulsenator Ties Rabe für seine Tätigkeit als Schulsenator? Was macht Ties Rabe schulpolitisch gut und was läuft falsch?
Sabine Boeddinghaus:
Fleißnote „2“ von mir für Ties Rabe. Note „6“ wegen ungenügender Phantasie, Vorstellungskraft und Teamfähigkeit. Ties Rabe ist ein Verwaltungsmensch der frei von jeglicher Vision ist.
Maik Findeisen:
Was für eine Schulpolitik würde eine Schulsenatorin Sabine Boeddinghaus machen?
Sabine Boeddinghaus:
Mit den Menschen vor Ort aufgrund der regionalen Gegebenheiten die Notwendigkeiten gemeinsam identifizieren und entwickeln. Einen Schulentwicklungsplan mit den regional Beteiligten erstellen. Jede Schule wäre verantwortlich für die SchülerInnen die kommen. Eine sachgerechte Lehrerausstattung mit entsprechender Qualifizierung und Weiterbildung. Jede/r SchülerIn hat einen Förderbedarf, den es zu stillen gilt. Bildung braucht Raum, Zeit, gute PädagogInnen und Finanzmittel.
Liebe Frau Boeddinghaus, vielen Dank für das Gespräch.