Eine jüngst veröffentlichte „Datengestützte Analyse zur Lage der Stadtteilschulen in Hamburg“ des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) zeigt, wie schwer es diese Schulen tatsächlich haben. Hierzu hat das Parents Magazin mit Frau Dr. Stefanie von Berg das nachstehende Interview geführt.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Die Analyse zur Lage der Stadtteilschulen macht schwarz auf weiß deutlich,
dass es dort sehr viele Schüler mit Förderbedarf gibt. Die Zahlen lesen sich
zum Teil dramatisch. Wie bewerten Sie die Analyse?
Dr. Stefanie von Berg:
Wir sollten auf keinen Fall den Fehler machen, diese Zahlen als
Tatsache für alle Stadtteilschulen zu interpretieren – es sind
Durchschnittszahlen. Tatsächlich gibt es an einigen Stadtteilschulen viele
Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, an anderen jedoch deutlich
weniger. Diese Unterschiedlichkeit liegt immer und ausschließlich an der
geografischen Lage der jeweiligen Schule: Denn dort, wo Armut herrscht,
dort, wo besonders viele Familien in sozial schwieriger Lage sind, ist auch
die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung besonders hoch.
Die insgesamt für ganz Hamburg gestiegene Zahl dieser Kinder ist vor allem Ausdruck der zunehmenden sozialen Spaltung in unserer Stadt. ALLE Schulen in Hamburg
haben nun die Aufgabe, sich dieser Realität zu stellen und dafür zu sorgen, dass jede(r) Schüler(in) bestmöglich gefördert wird. Dies ist nicht alleine Aufgabe der Stadtteilschulen – auch wenn
sich durch das Zwei-Säulen-System ab der fünften Klasse dort die allermeisten Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf wiederfinden.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Fünf von 22 Schülern in den fünften Klassen der Stadtteilschulen kommen aus schwieriger Wohnlage, sechs erhalten eine Sprachförderung, drei haben ein sonderpädagogisches Fördergutachten. Wie kann
geholfen werden? Welche schulpolitischen Veränderungen sind erforderlich?
Dr. Stefanie von Berg:
Erst einmal haben die von Ihnen aufgezählten Kinder nicht nur
Defizite, sondern auch Kompetenzen und Fähigkeiten, die der Klasse und der Schule zu Gute kommen. Eine rein defizitorientierte Sichtweise auf Kinder
hilft niemandem und verkennt, dass jedes Kind Talente hat, die es zu fördern
gilt. Gerade die Stadtteilschulen, die sich in sozial belasteten Regionen
befinden, haben es dennoch schwer, weil die Schülerschaft zusätzliche
Problemlagen mit sich trägt. Diese Schulen erhalten dafür erheblich mehr
Ressourcen, die Klassen sind kleiner, über die letzten Jahre wurden
multiprofessionelle Teams in den Schulen implementiert.
Schul- und auch bildungspolitisch sind wir auf einem guten Wege, allerdings
werden sich die größten Effekte erst sehr viel später zeigen. So werden wir
in einigen Jahren von der erheblich ausgebauten frühkindlichen Bildung
profitieren können – Schule wird dann nicht nur noch Reparaturbetrieb sein.
Auch die Professionalisierung und Weiterbildung der Lehrkräfte in Richtung
Inklusion wird erst nach und nach sicht- und spürbar werden. Was wir
brauchen, ist eine noch stärkere Verankerung von Kompetenzen für inklusive
Bildung in der Lehrerbildung. Da setze ich viel Hoffnung auf die aktuell
diskutierte Reform der Lehrerbildung.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Das Image der Stadtteilschulen ist nicht gut. Immer mehr Eltern melden ihre
Kinder an den Gymnasien an. Was macht Schulsenator Ties Rabe falsch?
Dr. Stefanie von Berg:
Der Trend, dass Eltern ihre Kinder lieber und zunehmend an
Gymnasien anmelden, ist kein Hamburger Phänomen. Zudem ist die
Stadtteilschule eine recht junge Schulform, in die das Vertrauen noch
wachsen muss und wachsen wird. Diese Schulen leisten wichtige und gute
Arbeit und sind nachweislich hervorragend bei den Lernzuwächsen ihrer
Schülerschaft.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Woran liegt es, dass die Stadtteilschulen die Hauptlast der Inklusion tragen
und eine ungleiche Verteilung der Flüchtlingskinder bemängelt wird?
Dr. Stefanie von Berg:
Inklusion ist keine Last! Inklusion ist die Möglichkeit, die schon
immer bestehende Vielfalt als etwas Selbstverständliches anzunehmen, den
Umgang damit nicht zu scheuen und Heterogenität als Reichtum zu begrüßen. Hier wird individualisiert gelernt, hier wird auf einzelne Kinder gut
eingegangen. Auch deshalb habe ich für meinen Sohn eine Stadtteilschule
ausgewählt. Ich betrachte das als eine Chance für jede(n)
Stadtteilschüler(in). Auf gar keinen Fall als Last. Ich würde mir das im
Übrigen auch für Gymnasien wünschen, die diesen Weg gehen wollen. Doch dem steht der § 42 im Hamburgischen Schulgesetz entgegen, der vorsieht, dass Schüler(innen) nach der 6. Klasse das Gymnasium
verlassen müssen, wenn sie das Leistungsziel nicht erreichen.
Was das Thema Flüchtlingsbeschulung betrifft: hier befinden wir uns
selbstverständlich auf neuem Terrain. Das Prinzip der Wohnortnähe und
sinnvollen Durchmischung (niemand möchte reine Flüchtlingsklassen) stehen
einander in einigen Fällen entgegen. Ich sehe hier jedoch keinen unbedingten Zusammenhang zum Thema Inklusion oder Stadtteilschule. Im Übrigen sei erwähnt, dass die geflüchteten Kinder und
Jugendlichen meist hochmotiviert, lern- und leistungsbereit sind und somit oft einen guten Schwung in die Lerngruppen bringen. Die anderen Kinder merken nämlich, dass Schulbildung ein Schatz ist,
den sie bislang immer für selbstverständlich gehalten hatten.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Die Schulleiter der Stadtteilschulen haben in ihrem Brandbrief an
Schulsenator Ties Rabe die Sorge geäußert, die Stadtteilschulen können zu
einer "Rest"-Schule werden. Teilen Sie diese Sorge?
Dr. Stefanie von Berg:
Ich finde den Begriff „Rest“-Schule furchtbar. Was heißt denn
„Rest“? Warum ist jemand „Rest“, nur weil er*sie nicht auf dem Gymnasium
ist? Was ist das für ein Blick auf Kinder und Jugendliche? Diesen Begriff
sollten wir aus unserem Vokabular streichen – er ist schlicht
menschenverachtend.
Was ich aber teile, ist die Sorge, dass an den Stadtteilschulen nicht mehr
die leistungsheterogene Vielfalt herrscht, wie sie für eine positive,
lernwirksame Lernatmosphäre wünschenswert wäre. Wir haben aus den
erfolgreich arbeitenden Gesamtschulen gelernt, dass sie immer von Vielfalt
profitierten. Und hier müssen wir gegensteuern: Es muss mehr auf die
einzelne Schule vor Ort mit ihrem jeweiligen Profil ankommen und weniger auf
die Schulform. Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam mit allen
Akteur(innen) über ein geändertes Anmeldeverfahren nachdenken. Denn das Ziel muss sein, dass Schulen vielfältig zusammengesetzt sind, dass es mehr auf das Profil ankommt als auf die
Schulform.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Woran liegt Ihrer Ansicht nach das eher schlechte Image der
Stadtteilschulen?
Dr. Stefanie von Berg:
Hunderte von Jahren existierte das mehrgliedrige Schulsystem und
das Gymnasium galt als die Schule, die alleinig eine finanziell gesicherte
Existenz verspricht. Ein Systemwandel ist immer ein Bruch und es dauert
Jahrzehnte, bis er auch in den Köpfen der Menschen vollzogen ist. Das ist
verständlich und überrascht mich nicht. Umso wichtiger ist es aber, nicht
müde zu werden zu betonen, wie gut die allermeisten Stadtteilschulen in
Hamburg arbeiten: Sie haben den höchsten Lernzuwachs, immer mehr
Jugendliche, die früher im System untergegangen wären, werden nun
gefördert. Viele machen das Abitur. Und: Vielfalt ist hier eine
Selbstverständlichkeit, die von Lehrkräften professionell gehandhabt wird.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Können Hamburgs Eltern ihre Kinder guten Gewissens auf die Stadtteilschule
schicken?
Dr. Stefanie von Berg:
Ja, das können sie. Allerdings würde ich mir als Eltern gemeinsam
mit dem Kind viele verschiedene Schulen anschauen, um sich entscheiden zu können, welche Schule vom Profil her die richtige Schule für mein Kind ist.
Braucht es ein bestimmtes pädagogisches Konzept? Ist ein Kultur-, Musik-
oder Sportprofil förderlich? Wie sieht die Kooperation im Stadtteil aus
etc.?
Abschließend: Ich stehe ohne Wenn und Aber zur Schulform Stadtteilschule.
Ich würde mir nur wünschen, dass wir wieder auf die Ressourcen dieser noch
jungen Schulform schauen, nicht auf die Defizite. Ich schaue mir das halb
volle, nicht das halb leere Glas an.
Maik Findeisen (Parents Magazin):
Liebe Frau Dr. von Berg, vielen Dank für das Interview.
Maik Findeisen:
Guten Tag Frau Dr. von Berg, können Sie sich bitte kurz vorstellen.
Dr. Stefanie von Berg:
Guten Tag Herr Findeisen, sehr gern.
Ich wurde 1964 in Göttingen geboren und verbrachte dort meine ersten Lebensjahre und die Grundschulzeit. Mit dem sechsten Lebensjahr bin ich mit meiner Familie allerdings für ein Jahr nach New York gezogen – eine wirklich prägende Erfahrung. 1974 zogen wir erneut um – dieses Mal nach Rotenburg/Wümme. Dort machte ich 1983 mein Abitur und auch meine Ausbildung zur Arzthelferin. Im Anschluss daran studierte ich in Osnabrück für das Lehramt an berufsbildenden Schulen Gesundheitswissenschaften und Anglistik/Amerikanistik.
Einen Teil meines Studiums finanzierte ich mit der Arbeit in Kinder- und Jugendheimen. 1989 bestand ich mein Erstes Staatsexamen und nahm 1990 den Vorbereitungsdienst in Hannover auf. Nachdem ich im Mai 1992 das zweite Staatsexamen bestanden hatte, begann ich 1992 erst in Verden, später in Stade, als Berufsschullehrerin zu arbeiten. Seit 1997 bin ich zudem in der Lehrerausbildung am Studienseminar Stade für das Lehramt an berufsbildenden Schulen tätig – zunächst nur in den Fächern Gesundheitswissenschaften und Englisch, seit 2004 auch als Leiterin des Seminars.
„Neben“ meinem Referendariat und meinem Beruf als Lehrerin promovierte ich im Jahr 2000 zum Thema „’Uncomfortable Mirror’: (De-)Kolonisation in Gedichten zeitgenössischer indigener nordamerikanischer Autorinnen. 1973-1997“, wofür ich den Promotionspreis der Universität Greifswald erhielt.
Seit 1999 bin ich verheiratet, im selben Jahr wurde unser Sohn geboren und wir sind nach Eimsbüttel gezogen. Seitdem fühle ich mich mit diesem Stadtteil sehr verbunden. Ich bin hier Zuhause und möchte daher meine Energie für diesen Wahlkreis zur Verfügung stellen.
Maik Findeisen:
Was bewerten Sie in der Hamburger Schullandschaft positiv?
Dr. Stefanie von Berg:
Der Ganztag, die Inklusion, die Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit und der Bildungsbeteiligung sind als positiv in der Hamburger Schullandschaft zu bewerten.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie die Integration von Flüchtlingskindern in die Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Dr. Stefanie von Berg:
Der Übergang von den Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) in die Regelklassen muss verbessert werden. Hierzu sollte es z. B. Kinder als Paten geben und Eltern sollten bei der Schulwahl solidarisch sein, damit alle Schulen Flüchtlinge aufnehmen können.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie die Inklusion in der Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Dr. Stefanie von Berg:
Die zur Verfügung gestellten Ressourcen sind ausreichend, die Ressourcen kommen jedoch nicht immer beim Kind an. Die Lehrerausbildung muss weiter verbessert und Pädagogen durch erfahrene Coachs begleitet werden.
Maik Findeisen:
Wie bewerten Sie das Thema „Schulbegleiter“ in der Hamburger Schullandschaft? Was läuft gut, was muss besser werden?
Dr. Stefanie von Berg:
Einzelne Träger versuchen einen Gewinn damit zu erwirtschaften. Das Vorgehen dieser Träger wirkt sich nachteilig auf die betroffenen Kinder aus. Die Pool-Lösung für die Schulen ist eine gute Idee – allerdings wäre es wichtig, dass spezialisierte Begleitungen bei einem Kind bleiben.
Maik Findeisen:
Wie nehmen Sie die Drogensituation an den Hamburger Schulen wahr? Wie sollte aus Ihrer Sicht Drogenprävention erfolgen und wie sollte in Akutsituationen (Drogendeal, Drogeneinnahme) vorgegangen werden?
Dr. Stefanie von Berg:
Gute Drogenprävention geht einher mit dem Klima in einer Schulklasse und in der Schule, dem sozialen Lernen, dem Unterbinden von Mobbing und dem Geben von Perspektiven. Akutsituationen werden durch das Strafrecht abgedeckt, Drogenhandel ist strafrechtsrelevant.
Maik Findeisen:
Voraussichtlich im Herbst 2017 kann der Neubau der Irena-Sendler-Schule bezogen werden. In diesem Zusammenhang soll die traditionsreiche Aula abgerissen und durch eine erheblich kleinere Multifunktionsräumlichkeit (Aula, Essensplätze) „ersetzt“ werden. Wie bewerten Sie den Abriss der traditionsreichen Aula und den Ersatz?
Dr. Stefanie von Berg:
Die Situation rund um die traditionsreiche Aula der Irena-Sendler-Schule zeigt einmal mehr, dass Schulgremien bereits ab der Planungsphase „Null“ beteiligt werden sollten. Allerdings ist immer zu bedenken, dass zusätzliche Flächen auch erhebliche Betriebskosten nach sich ziehen..
Maik Findeisen:
Welche Note geben Sie Schulsenator Ties Rabe für seine Tätigkeit als Schulsenator? Was macht Ties Rabe schulpolitisch gut und was läuft falsch?
Dr. Stefanie von Berg:
Ties Rabe ist es mit zu verdanken, dass die Themen „Ganztag“, „Inklusion“ und „Schulstrukturfrieden“ in der Hamburger Schullandschaft grundsätzlich positiv zu bewerten sind.
Maik Findeisen:
Was für eine Schulpolitik würde eine Schulsenatorin Dr. Stefanie von Berg machen?
Dr. Stefanie von Berg:
Als Schulsenatorin würde ich die Selbstverantwortung der Schulen in den Vordergrund stellen, aber auch deren Verantwortung gegenüber der Schulbehörde. Außerdem würde ich partielle Modellversuche einführen, z. B. inklusive Gymnasien oder ein Polytechnikum.
Als Schulsenatorin würde ich zudem den Übergang Schule - Beruf optimieren, durch Bottom-Up ein längeres gemeinsames Lernen in Bildungshäusern und Langformschulen ermöglichen sowie die Schul- und Berufsausbildung durch regionale Bildungslandschaften fördern.
Als Schulsenatorin würde ich ferner die Lehrerbildung hinsichtlich der Individualisierung fördern.
Maik Findeisen:
Liebe Frau Dr. von Berg, danke für das Gespräch.